Ein Archiv ist mehr als ein Haufen altes Papier. Warum der Kölner Einsturz auch weiterhin ein Aufbegehren der Bürger erfordert
von Thomas Luczak
Als das Kölner Archivgebäude einstürzte, verschwand nicht nur eines der größten europäischen Geschichtsarchive im ausgehöhlten Grund der selbstbewussten Stadt mit römischer Tradition. Es verschwand auch das Selbstbild der Stadt, das seit dem Niedergang in der frühen Neuzeit diverse Konjunkturen zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstmitleid erlebte. Deshalb war der sich langsam entwickelnde Aufstand nach dem 3. März 2009, der in Gestalt der Initiative „Köln kann auch anders“ und dem Bürgerbegehren für den Erhalt des Schauspielhausbaus von Wilhelm Riphahn auftrat, im vorpolitischen Raum so erfolgreich. Die Verwaltung der Stadt – eine oft mandarinhafte, geschlossene Gesellschaft – verspürte ein historisches Ansehenstief. Die Politik war entsetzt über das bundesweit kommunizierte Bild einer unfähigen Stadt. Konsequenzen gezogen haben aber in erster Linie Menschen ohne Mandat: Transparenz und Mitsprache wurden eingefordert. Tatsächlich fand eine kleine Revolution statt (Revolutionen in Köln sind seit der Gülich-Episode im 17. Jahrhundert ja eher milde).
Man kann gar nicht behaupten, dass die Stadtspitze nicht reagiert hätte. Partizipation wird seither großgeschrieben. Diese sah das Bundesbaugesetzbuch zwar immer schon vor. Aber das war doch eher auf die Ära des „Wiederaufbaus“ und der Stadterweiterung „auf der grünen Wiese“ bezogen. Jetzt werden in Köln erstaunliche, neue Wege beschritten. Große Themen wie die Zukunft des Helios-Geländes und die Bundesgartenschau werden vorab in Bürgerworkshops kontrovers diskutiert, und mehr noch: nach den Architektenwettbewerben sollen die Ergebnisse noch einmal offen beraten werden. Der Schutzmantel der „einhelligen Expertenentscheidung“ – wie er noch beim Schauspielhauswettbewerb durch sanften Druck für „Einstimmigkeit“ der Jury hergestellt wurde – wird ein bisschen gelüftet (für Hardliner schon der plebiszitäre Sündenfall).
Auch der Bürgerworkshop zum alten Archivgelände – kurz nach Abschluss des Runden Tisches zum Schauspielhaus von OB Roters angekündigt – gehörte zu den erfreulichen Neuerungen. Die hartnäckige Forderung nach einer räumlichen Fassung der Erinnerung an die Katastrophe, nach Offenheit und Verzicht auf das Herunterdeklinieren des gewöhnlichen Stadtplanungs-ABC, fand Eingang in die Wettbewerbsauslobung. Umso verstörender fiel die Jury-Entscheidung aus: die in der Ausschreibung an erster Stelle genannte Aufgabe einer Beschäftigung mit dem Raum der Erinnerung kommt in den während der Jury-Sitzung aufgestellten Kriterien gar nicht mehr vor und erscheint dementsprechend im Ergebnis des 1. Preises nur noch als eingezwängte Streichholzschachtel (oder Schafott?). Es ist, als ob die unsichtbaren Lenker der Verfahren die losstürmenden Pferde der Einmischung und radikalen Thematisierung wieder einfangen wollen, erschreckt von der Vision, den Makel nicht zu verbergen, die Zeit womöglich für Selbstbesinnung und Standortbestimmung zu nutzen. Es zeigt sich ein horror vacui der Verantwortlichen, die Angst vor dem Eindruck, als nicht handlungsfähig dazustehen, das Heft des Handelns zu verlieren.
Der Ruf nach produktiver Nutzung des (aus juristischen Gründen erzwungenen) Stillstands und der Leere an diesem Ort kann nur aus den mentalen Dispositionen einer Stadtgesellschaft voller innerer Risse verstanden werden. Warum will eine Stadtverwaltung, die auch für kleinere Stadtreparaturen endlose Zeiträume benötigt und den Bürgern trostlose Provisorien wie den neuen U-Bahn-Ausgang am Alter Markt bietet, warum will diese Verwaltung gerade an einem Ort, an dem es keinen Entscheidungsdruck gibt, Fakten schaffen, deren Halbwertszeit absehbar schon vor Baubeginn 2019 erreicht ist und allenfalls als Symbol für eine Ära blassen Durchwurschtelns überdauern wird?
Die Behauptung steht: Das Nichts, die Offenheit, die Gedankenfreiheit sind noch für Jahre eine Chance auf Korrektur in den Machtgefügen der Stadt. Die Frage ist: Regt die Wunde des Archivkraters die Selbstheilungskräfte der Stadt an oder wird sie hektisch und stümperhaft verquacksalbert?
Ein Archiv ist nicht automatisch ein Instrument der Demokratie. Eher umgekehrt: von Hause aus ist es eher ein Mittel der Herrschaft. Die Demokratie muss sich erst noch des Archivs bemächtigen. Aber wie? Entscheidend ist nicht die Menge der gestapelten Nachlässe, sondern die Bereitschaft, aus der eigenen Geschichte zu lernen. So schmählich das Versagen der Verantwortlichen beim U-Bahn-Bau im Umgang mit den Kulturbauten und den darin gehorteten Schätzen ist, so wichtig wäre eine Selbstbesinnung der Stadtgesellschaft auf ihre eigene Verantwortung diesseits der Offizialgeschichte. Manche nennen das Archiv „das Gedächtnis der Stadt“, was angesichts der dramatischen geschichtlichen Höhenflüge und Abstürze der Stadt Köln spannend sein könnte, aber in der generalisierenden Glättung wie eine geradlinige Erfolgsgeschichte daherkommt.
Ein Archiv im Dienste der Demokratie ist eine offene Bibliothek des eigenen Handelns und der Selbstverständigung, kein Tresor für die Wissenschaft oder der Verwaltung. Die vertikale Schichtung des Archivs muss in die Horizontale der bürgerschaftlichen Zukunftsgestaltung mit Bewusstsein für die Herkunft überführt werden. Wäre es nicht die logische Konsequenz aus dem Versagen, dem Ort des alten Archivs die Rolle eines Katalysators für Austausch, Diskussion und Beteiligung zu geben?
In Köln kontrastieren großartige Einzelleistungen mit geistigen Niederungen und Schreckensvisionen, deren Realisierung uns zum Glück erspart geblieben ist. Selten kam die Rettung von innen, meistens brauchte es äußerer, drastischer Eingriffe. Erst die Franzosen weckten eine hässlich gealterte, rückschrittliche und verlotterte Stadt aus ihrem Tiefschlaf und legten die Basis für das moderne Köln. 75 Jahre später bedurfte es der Preußen, um die Kölner Bürger daran zu hindern, noch die letzten Reste der Stadtmauer abzutragen und zu verhökern. Es brauchte schon eine Menge Durchhaltevermögen – und Verschlagenheit – , das Kölner Glacis den 70 betuchten Grundeigentümern abzuringen und den großartigen Grüngürtel zu schaffen, wie es Adenauer und Schumacher gelang. Wie oft aber geisterten Leitbilder des Komplett-Abrisses ganzer Quartiere und gigantomaner Großbauvorhaben durch die Köpfe der Verantwortlichen – und das waren nicht nur die nationalsozialistischen Aufmarschplätze. Der Virus der Maßlosigkeit ist bis heute lebendig: Müllverbrennungsanlage, Messe, technisches Rathaus, Abriss des Opernquartiers ... gerade noch verhindert.
Was Köln fehlt, ist ein neues Verhältnis seiner Bürger mit ihren Repräsentanten. Was Köln fehlt, ist ein neues Verhältnis der städtischen Repräsentanten mit „ihren“ Bürgern. Ja, Köln hat seit dem Aufstand gegen die Willkürherrschaft Annos II. im 11. Jahrhundert einen mächtigen antiherrschaftlichen Eigensinn. Aber ebenso hat es eine Geschichte der ständigen Bereicherung und Selbstbeweihräucherung der Stadtoberen. Was macht nun eine Stadt, die sich der ersten halbwegs demokratischen Verfassung nördlich der Alpen rühmt, aber den Anschluss an die Gegenwart glaubt ignorieren zu können, weil vom Stapelrecht des Mittelalters bis zum heutigen europäischen Verkehrsknoten ein unverdienter Lagevorteil die örtlichen Schlampereien und Ignoranzen nebensächlich erscheinen lässt?
Also lasst uns auf die Barrikade des Archivkraters steigen! Machen wir aus Nichts einen wertvollen Kristall. Verdichten wir die Luft des Atmens und Redens zu weinenden und lachenden Momenten. Drehen wir den unsichtbaren Rückwärtsgehern eine Nase und fassen uns an die eigene. Warum wird das Archivgrundstück nicht einer jedenfalls überwiegenden öffentlichen Nutzung überlassen? Bringt die offenbar geplante Verscherbelung des Grundstücks für die Haushaltsplanungen des nächsten Jahrzehnts mehr als eine Erleichterung im Promille-Bereich? – Wie viele andere sehe ich hier einen öffentlichen Marktplatz der Ideen, eine Bühne für die partizipative Bürgergesellschaft, ein Bürgerrathaus. Und träfen hier nicht stadtnahe Bürgervereinigungen, Plattformen, Institutionen und Initiativen – die allesamt urbane Werkzeuge der Zukunft schmieden – an einem angemessenen, synergetisch funktionierenden Ort zusammen? Beispielsweise die Initiative KKAA, das Haus der Architektur Köln, die Tanzinitiativen, die Kunsthallenbefürworter – und vor allem die gerade angetretene Akademie der Künste der Welt. Befeuern wir einen Schmelztiegel zum Auftauen sozialer Kälte, zur Verflüssigung erstarrter Strukturen, zum Einschmelzen überflüssiger Orden, um sie zu gießen in eine neue Kölner Selbstverständlichkeit.
© Thomas Luczak