Eine Frage der Angemessenheit
Zum Ergebnis des Wettbewerbs Erweiterung des Gymnasiums Kaiserin-Augusta-Schule und Städtbauliche Entwicklung des Georgsviertels
von Reinhard Matz
Wenn ein Haus einstürzt, scheint es das Natürlichste von der Welt, die entstandene Lücke so schnell wie möglich in einer Weise zu schließen, dass nichts mehr an das Unglück erinnert. Das Historische Archiv der Stadt Köln war aber nicht irgendein Haus und es war auch kein beliebiger Einsturz. Das Haus beherbergte das bedeutendste Kommunalarchiv Deutschlands und eines der ältesten und umfangreichsten Europas; sein Einsturz ist für weite Teile der Stadt ein traumatisierendes Ereignis.
Der Einsturz des Archivs am 3. März 2009 war ein bislang nur durch Kriegseinwirkungen bekannter Einschnitt in die Funktionsweise, Wertschätzung und Sicherung europäischer Kulturgüter. Sicher geglaubte Verwahrung erwies sich als unzureichend, nicht zuletzt 800 großzügige Nach- und Vorlassgeber wurden enttäuscht und geschädigt. In der Hybris des technisch Machbaren installierte man unmittelbar vor dem Magazingebäude des Stadtarchivs ein besonders breites und tiefes Bauwerk zum Rangieren der geplanten U-Bahn. Der Glaube an die Ingenieurs- und Baukunst, kombiniert mit dem heutigen Spardruck öffentlicher Haushalte und unzureichender Bauaufsicht stellte nicht nur die Unversehrtheit eines der bedeutendsten Archive Europas zur Disposition. Für acht Minuten künftiger Zeitersparnis wurden Menschenleben, Nachbarschaften und über tausend Jahre Geschichtsschreibung riskiert, beschädigt und verloren.
Angesichts eines derart einmaligen Ereignisses und Schadenumfangs fragt sich, ob es angemessen ist, hier eine geschlossene Blockrandbebauung vorzuschlagen oder ob es heute nicht sensiblere Formen gibt, einer solch traumatisierenden Katastrophe zu gedenken. Nicht nur überregional, auch in Köln finden sich Beispiele für gelungene Gedenkorte.
Damit soll nicht unbedingt einer künftigen Mischnutzung widersprochen werden, wohl aber einem vorschnellen Verfahren, das Fakten schafft, ohne die Konsequenzen und die verletzten Gefühle einer übergangenen Stadtgesellschaft zu berücksichtigen. Die Kaiserin-Augusta-Schule soll sich erweitern können, die Ränder der Neubauzone mögen wieder Wohnbebauung werden … Mindestens aber die Fläche bzw. das Volumen des ehemaligen Magazingebäudes hat ›common ground‹ zu bleiben, für den es eine dem genius loci angemessenere Lösung zu suchen gilt, als die Anbringung einer Gedenktafel oder die Aufstellung einer fragwürdigen Metallplastik. Hier ist eine substantiellere künstlerische Lösung gefragt als die übliche Kunst am Bau, die die Kunst zum Dekorum degradiert.
Da aber nun die Ergebnisse des städtebaulichen Ideenwettbewerbs dem Gedenken keinen angemessenen Raum geben und die Anregungen der Bürgerbeteiligung praktisch komplett übergangen werden, während die Kunst noch gar nicht gefragt wurde, wird die Annulierung dieses Wettbewerbteils unumgänglich. Ob dort am Ende ein stiller Gedenkort, ein Kulturraum, eine Leerstelle, ein Erinnerungsgarten, ein Amphitheater oder der Erhalt des derzeitigen Kraters mit Grundwassersicht sein wird, sollte nicht vorentschieden werden. Aber viele Stellungnahmen der Bürgeranhörung von Sommer 2011 weisen in die richtige Richtung. Eine übliche Blockrandschließung hat ihre Aufgabe an diesem Ort jedenfalls verfehlt.
Nov. 2012
© Reinhard Matz